Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis, 1. Oktober 2023

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Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis, 1. Oktober 2023

20.11.2023

zu Markus 9, 17 - 27; gehalten von Dompfarrer Dr. Gunnar Wiegand

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

erst kürzlich bin ich einem Mann begegnet. Wir kennen uns eher flüchtig, aber er war mir immer sympathisch. Und wie das bei so einer Begegnung ist, fragte ich ihn ganz unverbindlich: „Na wie geht es ihnen?“ Er zögerte einen kurzen Moment bei der Antwort und erwiderte: „Naja zur Zeit nicht ganz so gut… im Moment stürzt alles zusammen. Meine Ehe geht gerade den Bach hinunter. Ich habe morgen einen Termin beim Scheidungsanwalt. Ich bin völlig verzweifelt.“

Sie können sich vorstellen, ich war erst einmal betroffen… die Sorge um ihn, all die Auseinandersetzungen um den Prozess, meine Sorge um seine Kinder, die ich wirklich auch gerne hatte. Leider hatten wir in diesem Moment nicht die Möglichkeit länger weiterzureden. Abschließend sagte er mir dann aber etwas, was mich sehr beeindruckt hat und uns mitten in den Predigttext des heutigen Sonntags führt: „Hr. Wiegand, zum Glück habe ich liebe Menschen, die mich begleiten. Und noch nie in meinem Leben habe ich mich so über das Gebet zu Jesus getragen gefühlt.“

Liebe Gemeinde,

heute geht es um die Erfahrung von Ohnmacht und Verzweiflung im Leben. Ich vermute, viele von Ihnen haben solche Erfahrungen schon gemacht. Das muss nicht gerade eine Scheidung sein. Sie kennen ihre schweren Situationen der Ohnmacht, der Verzweiflung…

Ja, darum geht es heute, aber vor allem auch darum, wie Jesus uns zeigt, wie wir damit umgehen können, und sogar im besten Fall etwas für unser Leben mitnehmen, das uns über die ohnmächtige Verzweiflung hinweg trägt.

Der Predigttext für den heutigen 17. Sonntag nach Trinitatis steht im Evangelium nach Markus im 9. Kapitel, Vers 17 - 27.

Liebe Gemeinde,

eine faszinierende und zugleich auch ein wenig eigenartige Geschichte. Beim ersten Hören ist klar: hier geht es um die Krankheit eines Jungen… in heutigen Begriffen vermutlich Epilepsie… eine Krankheit, die Zuckungen oder Verkrampfungen verursacht. Dieser Junge ist von der Krankheit betroffen. Erstaunlicherweise aber kommt dieser Knabe überhaupt nicht zu Wort. Außer seinem Krankheitsbild erfährt man gar nichts von ihm, keinen Namen, er redet nicht (stummer Geist), man erfährt nichts über seine Gefühle. Statt dessen ist da immer wieder dieser (ebenfalls namenlose) Vater, der über den Jungen zu Jesus redet. Ja, die Gefühle äußert eigentlich nur dieser Mann. Ich stelle mir vor: Er sieht die epileptischen Anfälle von Geburt des Kindes an. Er fühlt mit, beschützt das Kind, was mit dem Heranwachsen immer schwerer wird. Er rechtfertigt den Jungen in peinlichen Situationen. Er tröstet ihn. Er hilft ihm immer wieder zurück in den Alltag. Und es ist verständlich. Das zehrt mit den Jahren auch an den Nerven des Vaters. Er wünscht sich, dass diese Belastung vorbei ist, ja dass der Junge diesen „Quälgeist“ los wird. Verzweiflung. Jesus gegenüber sagt er: „wenn du kannst, hilf uns; hab Mitleid mit uns!“

Dann tritt Jesus auf den Plan. Er hört die verzweifelten Rufe des Vaters. Jesus wendet sich dem Jungen offenbar vor allem zu, weil der Vater so sorgenvoll, verzweifelt interveniert. Man könnte also sagen, eine Geschichte auf zwei Ebenen: auf der einen Ebene der kranke Junge, das Sichtbare, von dem wir eigentlich gar nicht viel erfahren… auf der anderen Ebene der Vater, die sprachliche Ebene und die artikulierten Gefühle, der Vater, der an der Krankheit des Jungen leidet.

Eigenartig ist das deshalb, weil diese Geschichte nur gut zu verstehen ist, wenn wir uns nun auf die Beziehung und Auseinandersetzung des Vaters mit Jesus fokussieren. Und das heißt im Umkehrschluss: die Geschichte von der Epilepsie, von der Krankheit wird eher nachrangig. Wichtig ist: die Situation bringt den Vater in Verzweiflung. Die Verzweiflung ist das Thema, die Krankheit eigentlich nur der Aufhänger. In diesen Dialog und die Handlungen zwischen Vater und Jesus treten wir nun ein und sehen dann, welche Folgen sie für den Jungen haben.

Zunächst irritiert mich, wie die Geschichte eine Kluft zwischen den Jüngern und Jesus aufbaut. Da sind die Jünger, die vermutlich ihr Bestes geben, damit der Junge wieder gesund wird. Sie versuchen die Geistmacht auszutreiben… aber es gelingt nicht. Jesus fährt sie auch noch ungewöhnlich barsch an: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?“ Ich sehe diese Szene regelrecht vor mir, wie dieser Vater dahin kommt. Die Jünger sichtlich bemüht, dem Kind zu helfen. Vielleicht verschiedene Fragen mit der Einordung dieser Krankheit, kluge Ratschläge und trotzdem erfolglose Behandlung.

Die Jünger doktoren herum, wollen helfen, wollen ihm zu einem vermeintlich normalen Leben verhelfen. Aber es gelingt nicht.

Dann aber wird mir klar: ja so ist es doch oft auch im Leben. Da kommt jemand, ist verzweifelt, braucht Hilfe… aber wir haben einfach keine Macht, diese Situation zu lösen, wir haben nicht die Mittel, nicht das Wissen. Und dann versuchen wir uns verzweifelt aus der Affäre zu ziehen, geben (wie die Jünger) gutgemeinte Ratschläge, versuchen zu handeln, aber irgendwie gelingt es nicht so recht. Der andere bleibt auf Distanz… seine Verzweiflung wird vielleicht sogar noch größer. Ich höre förmlich die Tante meiner Frau, die als Ärztin im Krankenhaus gearbeitet hat und mir oft verzweifelt davon berichtet hat, wie viele unsinnige Operationen manchen Menschen verordnet werden… Operationen, die oft im Alter angeblich das Leben verlängern, in Wirklichkeit aber eher das Leid eines Sterbenden vergrößern… und natürlich die Einnahmen von Krankenhäusern steigern.

Ein anderer Gedanke dazu: Spiegelt sich hier die Lebenserfahrung der ersten Christen um den Evangelisten Markus im Text wieder? Jesus war ja in der Urgemeinde nicht mehr da. Man versuchte, wie Jesus, Kranke zu heilen, den Menschen im besten Sinn des Evangeliums beizustehen, aber es gelang nicht so recht… Ohnmacht, Verzweiflung, Trauer. Wir sind eben nicht Jesus. Wie peinlich berühren mich immer wieder Geschichten von Dämonenaustreibungen in den Kirchen unserer Zeit. Was soll das für ein Unfug sein. Wir können nicht über die Gesetze der Natur hinausgehen und wir können nicht an die Stelle Gottes treten, der allein in der Lage wäre, die Gesetze der Natur auszuhebeln. Wir Menschen sind nicht Jesus selbst. Durch diese Geschichte werden wir radikal auf Jesu alleiniges wirkmächtiges Handeln zurückgeworfen. Jeder von uns ist den Naturgesetzen, den Kräften unserer Natur ausgesetzt…

Und damit sind wir auch beim Glauben angelangt. Der Glauben steht ganz in der Mitte der Auseinandersetzung zwischen Jesus und dem Vater. Jesus schleudert förmlich dem Vater den Satz um die Ohren: „Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt.“ Ich denke hier muss man in zweierlei Hinsicht innehalten.

Zum einen frage ich mich, was das mit dem verzweifelten Vater macht… ganz existentiell. Ist das eine Prüfung, ob er dran bleibt? Will Jesus ihn reizen und herausfordern… nach dem Motto… „ist es Dir wirklich ernst mit Deiner Verzweiflung“? Kann das überhaupt gelingen? Ist Glaube nicht entweder da oder nicht da? ... Wie auch immer, die Szene geht weiter. Der Vater lässt sich nicht abschrecken und antwortet überzeugt mit Vorbehalt: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ In anderen Worten: Ich glaube so gut ich kann! Wenn das nicht reicht, dann hilf mir trotzdem!...

Mich erinnert das immer etwas an die sogenannte Pascalsche Wette, wonach es selbst im fehlenden Glauben als sinnvoll erachtet wird, Gottes Dasein anzunehmen, da man ja nichts verlieren kann… Obwohl Jesus sich in dieser Szene nicht von seiner freundlichen Art zeigt und oft sehr unwirsch reagiert, fasst er diese Antwort offenbar nicht als Provokation auf. Sie überzeugt ihn, dass dieser Vater wirklich glaubt und schreitet zur Tat der Geistesvertreibung. Es wird zwar nicht erwähnt… aber ich kann mir das innere Aufatmen des Vaters vorstellen, dass er nun endlich – nach so langem Hin- und Her – etwas erreicht hat.

Zum anderen frage ich mich nun, was diese kurze Unterhaltung für unseren Glauben heißt. „Alles kann, wer glaubt“ – sagt Jesus. Es wäre nach meiner Auffassung völlig falsch, den Schluss zu ziehen nach dem Motto: „wenn Du nur richtig glaubst, dann geht alles“ oder „wenn etwas nicht klappt, dann hast Du halt falsch oder nicht richtig  geglaubt“. Ich erinnere: Jesus hat genau das den Jüngern zum Vorwurf gemacht. Das Vertrauen in die eigenen Kräfte führt zu nichts. Und es führt auch zu nichts, zu meinen, man könne die Kräfte der Natur durch Glauben in Schach halten oder bannen. Das wäre geradezu fahrlässig, Medizin und Glauben gegeneinander auszuspielen.

Nein, Jesus setzt viel grundsätzlicher an… bei der Verzweiflung des Vaters. Dort, wo Medizin oder unser hilfloses Ratschlagen nicht weiterführt, da kommt der Glaube überhaupt erst ins Spiel. Und genau für diese Krisensituationen im Leben hilft der Glaube. Er lenkt unseren Blick weg von den bedrohlichen Kräften und eröffnet einen völlig neuen Blick auf das Leben.

Wunderbar ist am Ende der Ausgang und Markus Vergleich mit der Auferstehung. „Der Junge lag da wie tot, sodass alle Leute sagten: Er ist gestorben. Jesus aber fasste ihn an der Hand und richtete ihn auf und er erhob sich.“

Der Junge wird sicherlich weiterhin von seiner Epilepsie geplagt sein. Der Vater wird den Sohn sicherlich auch weiter begleiten. Wir erfahren es nicht…. Aber durch den Glauben an Jesus gibt es keinen Grund mehr, verzweifelt zu sein. Jesus zeigt eindrücklich, dass die Auseinandersetzung mit den Kräften der Krankheit zum Leben dazugehören, also ganz normal sind… außerdem siegt am Ende das Leben. Über unser Schicksal müssen wir durch den Glauben an Jesus nicht verzweifeln. Oder positiv ausgedrückt: Der Glaube an Jesus, und zwar ausschließlich an ihn und seine Macht, trägt uns durch das Leben. Die Leute um Jesus vergleichen es mit der Auferstehung vom Tod. Das ist unsere Hoffnung.

Der Mann, den ich getroffen habe, ist verzweifelt über seine Situation. Er hat Angst vor den Auseinandersetzungen mit seiner Frau vor Gericht, vor dem was nach der Scheidung kommen wird. Aber er hat auch die Einsicht: „Zum Glück habe ich liebe Menschen, die mich begleiten. Und noch nie in meinem Leben habe ich mich so über das Gebet zu Jesus getragen gefühlt.“ … was für eine Glaubenskraft.

Der Friede Gottes, welche höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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