12.03.2025
über Lukas 23,34a (Lut17) (erstes Wort Jesu Christi am Kreuz); gehalten im Freiberger Dom im Rahmen einer Passionsandacht mit Hängung des dritten Fastentuchs von Michael Morgner von Dompfarrer Dr. Gunnar Wiegand
Sie wissen nicht. Sie haben keinen Horizont. Sie kennen mich nicht. Ich bin ihnen verborgen, obwohl doch geredet habe. Sie wissen nicht, was sie tun, weil sie mich nicht kennen, weil sie nur meine Erscheinung beurteilen. Sie wissen nicht, was sie tun, weil sie sich selbst vergessen haben. Sie wollen mich gar nicht hören. Sie wollen schaden, weil es ihnen selber nützt. Aber was nützt es mir? Mir geht es doch dreckig. Ich bin der Schwächere. Wo ist die Menschlichkeit? Wo der Blick auf das Herz des anderen, der anderen? Wo ist der Blick für das Schöne? Gibt es im Elend überhaupt einen Blick für das Schöne?
Das dritte Fastentuch von Michael Morgner im Freiberger Dom. Ein Zeichen: der Altar ist verhüllt, eine Barriere, ein Störfaktor. Das Tuch verdeckt die Sicht durch den Raum. Halt! Da ist das Leiden in der Welt.
Da ist das Fastentuch gefächert, faszinierend-schillernd in den hellen Partien oben, knittrig durchzogen von den dunklen Bereichen ausgehend von der unteren Seite. Filigran schwebend schaukelnd im Luftzug des Doms. In der Nähe betrachtet. In den Fächern erscheint eine gekrümmte Gestalt. Da sind die verborgenen Menschen, die abgekanzelten Menschen, die Menschen, ohne Chance auf Teilhabe, die Menschen denen das Geld entzogen ist, die Menschen, die nicht schlafen können vor Kummer, die Menschen, die Hass erleiden, ja sogar unschuldig in den Tod getrieben wurden.
Ich habe Angst vor den anderen, die mir Schlechtes wollen. Ich bin wüten, weil ich ihnen gegenüber ohnmächtig bin. Ich bin wütend auf mich selber, dass ich mich nicht wehren kann. Ich hasse diese anderen, die mir Schlechtes wollen. Und gleichzeitig macht es mich traurig. Aber ich weiß auch: Sie wissen nicht. Sie haben keinen Horizont. Sie kennen mich nicht. Sie haben keine Liebe. Sie denken an sich, an ihr Geld, an ihren Status, an die Formalia, an die Gesetze. Sie sind unbarmherzig, bedrücken – bei allem Versuch Gerechtigkeit zu schaffen… es bleibt doch so oft der Nachgeschmack von Ungerechtigkeit.
Das Fastentuch. Ein Störfaktor. Aber er ist hauchdünn dieser Störfaktor. Ja, und trotz der scheußlichen erdigen Flecken, bleiben da die silbrigen glitzernden Stellen. Sie zeigen: das Schöne ist da. Die Kunst ist da. Die Schaffenskraft, das Göttliche sind da. Gott ist die andere Wirklichkeit. Und Gott kennt mich. Gott hört mich. Gott kennt mein Herz. Gott sieht nicht nur meine Erscheinung. Ja, ich bin gekrümmt, hässlich, aber bei Gott doch schön, einzigartig. Ich bin ein Mensch. Ich bin geliebt… gerade im Elend, gerade im Tod.
Und ich bin stolz. Ich weiß, ich kenne – nicht alles, aber doch mehr, weil ich nicht weiß, und dadurch weiß ich auch: die anderen können nicht anders. Sie bräuchten Gott und haben ihn nicht. Sie sind erbarmungswürdig, weil sie so besser daherkommen. Obwohl ich leide, habe ich die Kraft, um Mitleid zu bitten. Vergebung für die Welt. Gott vergib das Nichtwissen. Gott vergib die Gottferne. Gott vergib den Hass. Gott vergib den Menschen.
Lukas berichtet: 23.33f Als die Menschenmenge an die Stätte kam, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie Jesus dort und Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Amen.
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